Aus: Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer
Seite 1030 bis 1041 in Auszügen
Nach Flossenbürg
Über die letzte Woche in Bonhoeffers Leben besitzen wir die detaillierte Chronik von Payne Best, die sich bis nach Schönberg erstreckt (3.-8. April 1945). Dazu kommen die Berichte der Überlebenden Hermann Pünder, Josef Müller, Frau Goerdeler, Fabian von Schlabrendorff u.a. Schließlich ergeben sich Einzelheiten aus den Protokollen der Prozesse gegen Huppenkothen und Dr. Thorbeck, welche von 1951-1955 in Süddeutschland durchgeführt worden sind.
Transport nach Schönberg
Der Abtransport aus Buchenwald ist wohl durch Berliner Befehle ausgelöst worden; andernfalls hätte die dortige Lagerleitung die allgemeine Weisung ausgeführt, Sonderhäftlinge vor dem Herannahen des Feindes zu beseitigen, und bei der katastrophalen Verkehrs- und Versorgungslage wohl auch kaum einen Lastwagen freigestellt. Ja, es bestanden offenbar Anordnungen für die Transportführer, einige Häftlinge nach Flossenbürg, andere weiter in südliche Richtung zu befördern.
So rollte ein unförmiger geschlossener Holzgaser am späten Abend des Osterdienstags, dem 3. April 1945, aus Buchenwald in die Nacht hinaus. Im Wagen türmte sich der Holzvorrat für den Generator. Dahinter mussten sich die Gefangenen des Prominentenkellers samt ihrem noch vorhandenen Gepäck mit einem Raum begnügen, der für höchstens acht Menschen berechnet war. Alle Stunde hielt das Fahrzeug, dessen Tempo ohnehin 30 km nicht überschritt. Die Luftzüge musste gereinigt werden, der Generator nachgefüllt und in viertelstündigem neuen Anheizen der Motor auf Leistung gebracht werden. Die Luft im Laderaum wurde dabei jedes Mal unerträglich, es gab kein Licht, nichts zu essen und nichts zu trinken. Mit den abnehmenden Holzstücken konnten sich aber immer zwei abwechselnd zur hinteren Tür bewegen und an der Türluke frische Luft schöpfen. Bonhoeffer, der neben Payne Best saß, fand Reste seine Tabakschätze und ließ sie die Runde machen... Jemand erkannte im Morgengrauen ein Dorf. Die Richtung war südöstlich. Die Wageninsassen vermuteten, dass es nach Flossenbürg ginge; das war für sie ein unheilvoller Name. Dennoch kam es zu einem Frühstück, bei dem die Wächter ungewohnte Lebensmittel hervorholten.
Gegen Mittag, am Mittwoch in der Osterwoche, erreichten sie Weiden. Hier musste es sich entscheiden, ob links in das Tal nach Flossenbürg hinauf abgebogen wurde. Der Wagen hielt. Draußen gab es einen Wortwechsel: „Weiterfahren, können Euch nicht behalten … zu voll!“ Und wirklich setzte sich der Wagen wieder in Bewegung – geradeaus nach Süden. Also doch nicht das Vernichtungslager? Aber wenige Kilometer später winkten zwei Polizeikradfahrer zum Stoppen. Müller und Liedig wurden herausgerissen. Dietrich Bonhoeffer beugte sich zurück, um nicht gesehen zu werden. Gehre jedoch, der Unglückliche, sprang hinterher; er hatte mit Müller die Zelle geteilt; er wollte mit ihm zusammenbleiben.
Wurden in dem allgemeinen Chaos Befehle gegeben und abgeändert? Sollten aus dem Wagen jedenfalls drei Männer nach Flossenbürg abgestellt werden? Die Schlussereignisse in Flossenbürg legen die Vermutung nahe, dass Bonhoeffer der dritte hätte sein solle, der aber durch Gehre nun ausgespart zu sein schien. Oder war eigentlich der ganze Transport für Flossenbürg bestimmt gewesen, und erst hier angesichts der Lage entschieden, dass bis auf einige Ausgewählte ein neuer Aufenthaltsort von dem Transportleiter selbst gefunden werden sollte?
Endlich fuhr der Holzvergaser wieder an. Da nun Flossenbürg hinter ihnen lag, wurden die Wächter freundlicher. An einem Bauernhaus ließen sie die Häftlinge aussteigen. Sie durften an die Pumpe im Hof heran, eine Bauersfrau brachte einen Krug mit Milch und Roggenbrot. Es wurde ein heller Nachmittag das Nabtal hinunter.
In der Dämmerung fuhr der Wagen nach Regensburg hinein. Alle Unterkünfte schienen überfüllt. Schließlich öffnete sich eine Tür, und die Männer wurden in das Gerichtsgefängnis kommandiert. Wenn es zu schroff zuging, verbaten sie sich den Ton. „Schon wieder Aristokraten“, meinte einer der Wächter, „hinauf zu den anderen im zweiten Stock!“ Dort lagen auf den Gängen die zuvor eingetroffenen Sippenhäftlinge, darunter die Angehörigen von Goerdeler, Stauffenberg, Halder, Hammerstein, Hassell, jung und alt. Die Angekommenen mussten zu fünft in Einzelzellen, aber jeder suchte sich aus, mit wem er sich einschließen ließ. Mit Bonhoeffer teilten die Zelle von Rabenau, Pünder, von Falkenhausen und Dr. Hoepner. Die Küchen waren schon geschlossen, aber die Häftlinge lärmten so lange, bis ein verschüchterter Wächter noch eine Gemüsesuppe auftrieb und mit einem Stück Brot verteilte.
Als am Morgen des Donnerstag die Türen zum Waschen geöffnet wurden, gab es auf den Korridoren ein großes Wiedersehen, Vorstellen und Austauschen. Best erzählt, die Szene haben mehr einem großen Empfang geglichen als einem Morgen im Gefängnis. Hilflos versuchten die Wächter, die Männer wieder in die Zellen zurück zu dirigieren. Schließlich brachte man das Essen in die Zellen, und allmählich saßen die „Fälle“ wieder hinter verschlossenen Türen. Bonhoeffer verbrachte die meiste Zeit an dem kleinen Schieber der Zellentür und berichtete den verschiedenen Angehörigen, was er von seinen Mithäftlingen in der Prinz-Albrecht-Straße wusste. Frau Goerdeler konnte er von den letzten Wochen ihres Mannes erzählen. Bonhoeffer meinte wohl, dass er nun der schlimmsten Gefahr entronnen sei. Ein Fliegeralarm unterbrach die Gespräche. Während draußen der Rangierbahnhof in Trümmer ging, hielten sich alle im Keller auf. Dann, als sie wieder nach oben gelassen wurden, wiederholte sich die Szene vom Morgen.
Gegen Abend wurde es ruhiger, und die Müdigkeit nahm überhand. Doch da erschien wieder einer der Buchenwald-Wächter und holte die Männer herunter zum bekannten Holzvergaser, hinaus in eine regnerische Nacht. In guter Stimmung ging es los, an der Donau entlang. Doch nach wenigen Kilometern geriet der Wagen ins Schleudern und stand still. Falconer als Fachmann musste bestätigen, dass die Lenkung zerbrochen war. Das war hier auf der Straße nicht zu beheben. Passanten wurden gebeten, dass sie von der Polizei in Regensburg einen Ersatzwagen bestellen sollten. Trotz ihrer Maschinenpistolen fühlten sich die Wächter nicht sehr wohl zwischen den ausgebrannten Autos an Rande der Chaussee. Der Regen trommelte auf das Verdeck.
Endlich, im Morgenlicht des 6. April, ließen die Wächter ihre Schützlinge heraus, dass sie sich die Beine vertreten und sich aufwärmen konnten. Gegen Mittag erschien endlich aus Regensburg ein Autobus mit heilen Fenstern. Die Habseligkeiten wurde umgeladen. Bonhoeffer hatte immer noch Bücher bei sich. Die schon ganz menschlich gewordenen Buchenwald-Wächter mussten bei dem Wrack zurückbleiben, zehn neue Leute des SD übernahmen mit ihren Maschinenpistolen den Transport. Aber es war dennoch ein Genuss, im schöneren Bus durch das liebliche Tal zu fahren, von der Donau herauf, am Kloster Metten vorbei in Stifters Bayrischen Wald hinein. Den Dorfmädchen, die mitgenommen werden wollten, erzählte der Fahrer, die Gruppe in dem feinen Omnibus sei eine Filmgesellschaft zur Aufnahme eines Propagandafilms. Aus einem Bauernhaus holten sie die SD-Männer eine Mütze voll Eier, aber nur für sich selber.
Am frühen Nachmittag war das Ziel erreicht: Schönberg unterhalb Zwiesel, 40 km nördlich Passau. An der Schule begann das Ausladen; die Sippenhäftlinge waren schon da. Die Gruppe der „Fälle“ kam in den ersten Stock, in einen Schulsaal, dessen Fenster den Blick nach drei Seiten in das grüne Bergtal freigaben. Hier standen richtige Betten mit farbigen Decken. Zwar blieb die Tür verschlossen, aber es war nun hell und warm. Bonhoeffer saß lange am offenen Fenster und sonnte sich, plauderte mit Pünder und lernte Russisch mit Kokorin. Er hatte sein Bett neben diesem.
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Alles war angeregt, man lachte und schrieb seinen Namen über das Bett. Nur die Verpflegungslage war nicht gelöst. Beschwerden stießen auf die sicher nicht unrichtige Erklärung, der Ort sei mit Flüchtlingen überfüllt und ein Fahrzeug zu Requisitionen nicht aufzutreiben, und das Benzin dazu erst recht nicht. Freilich gab es später Benzin und Fahrzeuge für andere Zwecke. Schließlich gelang aber über die freier gehaltenen Sippenhäftlinge ein Kontakt zu mitleidigen Dorfbewohnern; darauf gab es sogar einmal eine große Schüssel mit dampfenden Pellkartoffeln und am anderen Tag einen Kartoffelsalat für die hungrigen Häftlinge.
Der Sonnabend wurde zu einem ruhigen, schönen Tag. Er begann damit, dass Payne Best aus seinem Gepäck einen elektrischen Rasierapparat hervorkramte und jeder der Männer sich an dem Steckkontakt des Klassenzimmers mit dem erlesenen Gerät rasieren konnte. Der weite Raum ließ sogar Spaziergänge zu. Jeder nahm an, dass bei der allgemeinen Verwirrung im Lande keine Verfahren mehr zustande kommen würden.
Inzwischen aber arbeitete anderswo die Apparatur des RSHA ungeahnt exakt weiter. Sie war sogar noch imstande, bereits unterlaufene Versehen zu korrigieren.
Der Vernichtungsbeschluss
In der Mittagsbesprechung bei Hitler am 5. April sind offenbar die Beschlüsse gefasst worden, denen zufolge mit anderen auch Bonhoeffer und Dohnanyi nicht überleben sollten. Am Nachmittag dieses Tages wurden die Maßnahmen für die nächsten Tage im RSHA befohlen.
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Am Abend des 5. April gelangte eine Nachricht zu Dr. Tietze in das Staatskrankenhaus, Dohnanyi solle am nächsten Morgen nach Sachsenhausen „verlegt“ werden. Tietze holte eilends Christine von Dohnanyi herbei, damit sie ihren Mann noch einmal sprechen konnte; ein Fluchtplan war jedoch über Nacht nicht mehr zu verwirklichen. D5. Tietze gab Dohnanyi schwere Drogen, um ihn verhandlungsunfähig zu machen. Sehr früh am Morgen holte Sonderegger ihn ab.
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Am Vormittag des 6. April fuhr auch Huppenkothen nach Sachsenhausen und veranstaltete mit dem Kommandanten des Konzentrationslagers ein flüchtiges Standgericht, in dem sie den halb besinnungslos auf der Bahre liegenden Dohnanyi zum Tode verurteilten.
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Am Sonnabend, dem 7. April, befand sich Huppenkothen … auf dem Weg nach Süden, mit Benzin, vielen Koffern und wichtigen Akten, darunter angeblich auch ein Tagebuch des Admirals Canaris. Er kam noch am gleichen Tage im KZ Flossenbürg an, um sofort Vorbereitungen für ein summarisches Standgericht zu treffen. Als Vorsitzender war auch am 5. April abends der SS-Richter Dr. Otto Thorbeck aus Nürnberg bestellt worden. Dieser fuhr am Sonnabendmorgen mit einem Güterzug bis Weiden und radelte die restlichen 20 Kilometer nach Flossenbürg hinauf. Im KZ selber wurde alles vorbereitet, um das Standgericht über Canaris, Oster, Sack, Strünck, Gehre und Bonhoeffer zu beginnen. Jedoch die Präsenzmeldung stimmte nicht. Wo steckte Bonhoeffer? Man fragte in der Nacht zum Sonntag in mehreren Zellen nach, ob der Insasse nicht vielleicht doch der von Buchenwald überstellte Bonhoeffer sei. Schlabrendorff wurde zweimal angeschrien: „Sie sind doch Bonhoeffer!“ Ebenso erging es Josef Müller und Liedig. Er war nicht da. So musste er in dem Transport nach Süden geblieben sein. Der Fehler in der Nacht vom 3. zum 4. in Weiden war jedoch zu korrigieren. In dieser Organisation funktionierte noch der Wagenpark und die Benzinversorgung, um ein Transportkommando den mindestens 160 km langen Berg- und Talweg nach Schönberg hin und zurück fahren zu lassen.
Das Ende
In Schönberg beging man den Weißen Sonntag auch in der Schule. Plünder hatte den Einfall, Bonhoeffer um eine Morgenandacht zu bitten; so berichten Plünder, Best und Falconer. Aber dieser wollte nicht. Die Mehrzahl der Kameraden war katholisch. Und da war der junge Kokorin; Bonhoeffer hatte seine Berliner Anschrift gegen dessen Moskauer ausgetauscht, aber mit einem Gottesdienst wollte er ihn nicht überfallen. Dann aber war Kokorin dafür, und so hielt Bonhoeffer auf allgemeinen Wunsch die Andacht. Er las die Texte zum Sonntag Quasimodogeniti, sprach Gebete und legte seinen Kameraden die Losung des Tages aus: „Durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes. 53,5) und „Gelobt sei Gott und der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten“ (1. Petr. 1,3). Er sprach von den Gedanken und Entschlüssen, welche diese Gefangenschaft in allen hatte reifen lassen. Nach diesem Gottesdienst wollte die Sippenhäftlinge Bonhoeffer in ihren Saal herüberschmuggeln, um dort auch eine Andacht zu haben. Aber es dauerte nicht lange, als die Tür geöffnet wurde und zwei Zivilisten riefen: „Gefangener Bonhoeffer, fertigmachen und mitkommen!“
Er konnte sich noch seine Sachen zusammenraffen. Mit einem stumpfen Bleistift schrieb er in übergroßen Buchstaben seinen Namen mit der Anschrift in den Plutarch vorn, hinten und in der Mitte. So ließ er den Band liegen, damit er im späteren Chaos eine Spur zeigen möge. Einer der Söhne Goerdelers hat das Buch dann an sich genommen und nach Jahren als das letzte vorhandene Lebenszeichen der Familie Bonhoeffer übergeben. Es war das gleiche Buch, das er am 17. Januar erbeten und am 7. Februar noch im RSHA erhalten hatte.
Payne Best trug er Grüße an den Bischof von Chichester auf, wenn er seine Heimat erreichen sollte. „Das ist das Ende – für mich der Beginn des Lebens“ waren die letzten Worte, die uns Best überliefert. Eilig lief er die Treppe hinunter und empfing noch einen Abschiedsgruß von Frau Goerdeler.
Die Fahrt an diesem Sonntag muss bis in den späten Abend hinein gedauert haben. Das Standgericht – Thorbeck als Vorsitzender, Huppenkothen als Anklagevertreter und der Lagerkommandant Kögl als Beisitzer – behauptet, ausführlich getagt zu haben. Jeden Einzelnen hätten sie vernommen und einander gegenübergestellt: Canaris und Oster, Sack, Strünck und Gehre und endlich auch Dietrich Bonhoeffer. Nach Mitternacht signalisierte Canaris, als er nach längerer Abwesenheit in seine Zelle zurückkehrte, seinem Zellennachbarn, dem dänischen Oberst Lunding, durch Klopfzeichen, dass es mit ihm zu Ende gehe.
Noch vor Morgengrauen verließ Flossenbürg der erste Transport von solchen, die der geheimnisvollen Karawane in die Alpen angeschlossen wurden... In Dachau gehörte zu diesen Auserwählten auch Martin Niemöller.
In Flossenbürg aber vollzog sich im Morgengrauen die Hinrichtung... Alle verbliebene Habe wurde wie die Leichname verbrannt.
…
Maria von Wedemeyer, die sich beim Kriegsende auf der Suche nach Bonhoeffer im Westen Deutschlands befand, erreichte die unfassliche Nachricht im Juni. Die Eltern erfuhren als letzte, was geschehen war.